Rituale oder Routinen im Kirchenjahr?

Rituale im Kirchenjahr, das hört sich irgendwie logisch an. Rituale gehören zum Kirchenjahr, wie das Amen in der Kirche… Ja, genau, Kirche im Sinne von Gottesdienst ist ja auch so ein Ritual. Noch immer gehen sehr viele Menschen an den großen Feiertagen in einen Gottesdienst, vor allem an Weihnachten.

Auch viele Bräuche rund um die Festtage – Weihnachten, Ostern… – sind Rituale. Nach dem Gottesdienstbesuch am Heiligen Abend kommt die Familie nach Hause, es wird ein Glöckchen geläutet, die Lichter am Weihnachtsbaum werden entzündet und es gibt die Bescherung. In manchen Familien werden Weihnachtslieder gesungen (obwohl es das wohl nicht mehr allzu häufig gibt) und anschließend gibt es das familientypische Abendessen (zum Beispiel Kartoffelsalat mit Würstchen :-)).

Außerdem kennen wir noch eine Menge anderer Rituale im Laufe des Tages, der Woche, des Jahres: Geburtstagsfeier, Muttertag, die Gute-Nacht-Geschichte für unsere Kinder oder auch einfach die “Morgen-Routine” (Aufstehen, Waschen, Kaffeekochen…).

Hier gibt es aber schon meinen Ansatzpunkt: Routine oder Rituale im Kirchenjahr? Was hat es damit auf sich und was ist der Unterschied? Ist nicht auch der Gottesdienst oder andere Rituale im Laufe des Kirchenjahres für viele von uns längst zur Routine geworden? Oder für die, die eben nicht regelmäßig an einem Gottesdienst teilnehmen sogar fremd und vielleicht sogar sinnlos?

Dies ist der erste Beitrag in einer Serie über “Routinen oder Rituale im Kirchenjahr?”. Wenn Du das hier liest, dann hast Du vermutlich Interesse daran, mehr über das Kirchenjahr zu erfahren und es bewusster zu feiern. Dazu möchte ich Dir mit diesen Beiträgen helfen.

Ich bin überzeugt davon, dass es möglich ist, die Rituale im Kirchenjahr als Vertiefung des alltäglichen Lebens zu erfahren und mit ihnen eine lebendige Spiritualität im Alltag zu feiern! Die Rituale des Kirchenjahres entlasten außerdem. Durch die Wiederholung, die Bestandteil des Rituals ist, geben sie dem Jahr Struktur und – wenn es gut geht – auch Sinn und Tiefe.

Ich freue mich, wenn meine Beiträge Dich bestärken und ermutigen, das Kirchenjahr bewusst zu begehen und zu feiern und in den Alltag zu integrieren.

Themen der Artikelserie

1. Rituale im Kirchenjahr
2. Wenn Rituale zu Routinen werden
3. Achtsamkeit und Gewohnheit
4. Das Kirchenjahr im Alltag

 

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Lebendiges Kirchenjahr

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Kirchenjahr
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Was sind Rituale?

Zunächst einmal frage ich mich: Was sind eigentlich Rituale?
Schaut man sich im Internet etwas um, dann scheint es in zu sein, von Ritualen zu reden. Jeder Selbsthilfe-Guru empfiehlt irgendwelche tollen, selbst ausgedachten und im besten Fall selbst ausprobierte Rituale. Manchmal ist es esoterischer Blödsinn, manchmal absolut trivial, aber immerhin manchmal auch wirklich hilfreich. Aber es müssen natürlich “neue Rituale” sein. Die alten tun’s nicht mehr. Leider widerspricht das aber genau der Definition von Ritualen.

Es gibt verschiedene Definitionen für Rituale, aber es gibt ein paar zentrale Merkmale. Was für uns alle wohl logisch ist, ist die Wiederholung. Das ist wie bei einer Routine oder einer Gewohnheit. Die Abläufe eines Rituals sind immer gleich, zumindest in den Grundzügen.

Diese Wiederholung in bestimmten Zeitabständen, hängt eng mit einem weiteren Faktor zusammen. Das ist die Tradition. Für unsere kirchlichen Rituale wie Gottesdienste und die Bräuche im Kirchenjahr ist das klar. Persönliche Routinen, wie die “Morgen-Routine” sind so also noch keine Rituale. Bestimmte immer wieder gleiche Abläufe in der Familie, wie zum Beispiel bei einem Geburtstag, können aber den Charakter eines Rituals bekommen.

Hier sehen wir auch ein weiteres Merkmal des Rituals, nämlich die Kommunikation. Im Ritual kommunizieren Menschen untereinander, aber auch das Ritual kommuniziert die Inhalte an die Teilnehmer. Damit ist klar, dass ein Ritual auch immer eine soziale Komponente hat.

Ein Ritual ist immer auch identitätsstiftend. Im Gottesdienst erfahren Christen Gemeinschaft. Durch das gemeinsame Ritual gibt es eine Identität als christliche Gemeinde, Kirche. Sogar durch konfessionelle Unterschiede im Kirchenjahr können die Identitäten als “Evangelische” oder “Katholische” deutlich werden.

Auch “weltliche” Rituale haben diese Funktion: Im Staat zum Beispiel die Amtseinführung des Präsidenten, der Staatsakt beim Besuch eines ausländischen Staatsoberhauptes. Auch die Zusammengehörigkeit in der Familie kann durch familiäre Rituale gefestigt werden und somit die Identität als Mitglied gerade dieser Familie fördern.

Das Stichwort Transzendentalität gehört auch immer zum Ritual. Dass es bei religiösen Ritualen immer auch einen Bezug zu Gott, also dem Transzendenten, “Überweltlichen”, gibt, ist klar. In nicht religiösen Ritualen gibt es die Transzendenz zum Beispiel in Bezug auf Werte (Demokratie, Familie…).

Ohne rituale Festlichkeiten hat das Leben viele Schattenseiten. Hubert Joost

Welche Funktion haben Rituale?

Rituale werden heute nicht immer positiv gesehen. Häufig höre ich, dass Rituale einengend, inhaltsleer oder langweilig empfunden werden – ganz besonders im Blick auf den Gottesdienst. Übersehen wird dabei aber, dass jeder Mensch auch positive Rituale in seinem Leben hat, auch wenn er selbst sie vielleicht gar nicht als Rituale erkennt.

Wichtig ist mir auch, zu unterscheiden zwischen lebendigen Ritualen und solchen, die zur reinen Routine geworden sind (dazu mehr im nächsten Beitrag in dieser Serie). Ich gehe jetzt einmal von lebendigen Ritualen aus.

Diese Rituale sind vor allem entlastend. Sie entlasten mich von der Aufgabe, alles immer wieder neu “erfinden” zu müssen. Noch einmal das Beispiel des Gottesdienstes (ich gehe hier davon aus, dass Du ein grundsätzliches Interesse daran hast…).

Stell Dir vor, wir würden uns am Sonntagmorgen treffen um Gottesdienst zu feiern, aber keiner hat eine Idee, wie das gehen soll. Alle müssten sich dann erst einmal einigen, was dazu gehört. Dann müsste jemand (z.B. die Pfarrerin) diese Vorschläge in eine Abfolge bringen und irgendwie würden wir dann anfangen. Es gäbe eine große Verunsicherung und vielleicht Chaos. Jedenfalls könnte sich wohl keiner so recht wohlfühlen damit.

Rituale geben außerdem Halt. Gerade in schwierigen Lebenssituationen ist das eine große Hilfe. Mir ist zum Beispiel immer wieder aufgefallen, wie hilfreich es für Angehörige eines gerade Verstorbenen ist, wenn jemand da ist, der “weiß, was jetzt zu tun ist”.

Heute werden Bestattungsrituale immer individueller. In gewisser Hinsicht finde ich das durchaus gut. Trotzdem kann es eine große Belastung für Angehörige mit sich bringen, jedes Detail neu zu überlegen und zu planen. Da kann es sehr hilfreich sein, wenn es ein vorgegebenes Ritual gibt, in das man sich einfach “hineinfallen” lassen kann.

Durch die Gewohnheit, die ja ein Bestandteil des Rituals ist, wird die Durchführung einfacher. Es läuft eben einfach so, wie es immer gelaufen ist. Die negative Seite dabei ist, dass es zur Routine werden kann (siehe nächster Beitrag, der in einer Woche erscheint). Solange ich aber dem Ritual innerlich zustimme und seine Funktion für mich wichtig ist, hilft die Gewohnheit sehr.

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Unterschiedliche Arten von Ritualen

Grundsätzlich werden zwei Arten von Ritualen unterschieden: Kalendarische und ereignisbezogene Rituale.

Kalendarische Rituale sind die meisten Rituale im Kirchenjahr. Das heißt, diese Feiern, Gottesdienste, Bräuche finden jedes Jahr immer wieder statt. Sie orientieren sich am Kalender und haben festgesetzte Zeiten.

Dazu mag man auch familiäre Rituale wie das “Geburtstagsritual” zählen. Ein weiteres Beispiel wäre auch der letzte Schultag vor den Ferien, an dem es in vielen Schulen und Klassen eben auch eine festgesetzte Abfolge von Handlungen gibt.

Ereignisbezogene Rituale sind im religiösen Bereich zum Beispiel die Bestattung, die Taufe oder die Trauung. Im gesellschaftlichen Zusammenhang könnte der Staatsbesuch oder auch die Abiturfeier genannt werden. Diese Rituale wiederholen sich im Leben des einzelnen Menschen nicht zyklisch, sondern sind eben von dem Ereignis (Bestandenes Abitur, Geburt…) ausgelöst.

Die großen Rituale im Kirchenjahr

Im Kirchenjahr gibt es überwiegend kalendarische Rituale. Gesellschaftlich am deutlichsten sichtbar sind die großen Feste Weihnachten und Ostern. Rund um diese Feste haben sich eine Menge Rituale gebildet. Dazu gehören Rituale, die fest mit dem Kirchenjahr und dem Glauben verbunden sind, aber auch einige, die den spirituellen Charakter ganz verloren haben.

Manche Rituale im Kirchenjahr finden im kirchlichen Zusammenhang statt (Gottesdienst…), andere sind familiäre Bräuche (Bescherung…) und wieder andere sind von diesen traditionellen Funktionen ganz losgelöst (Adventsfeier im Betrieb…).

Ich brauche sicher nicht einzelne Punkte aufzuführen und noch mehr Beispiele zu nennen. Worauf es mir hier ankommt ist, dass wir uns klar machen, welche Bedeutung solche Rituale, die zumindest auf dem Kirchenjahr fußen, für uns heute noch haben.

Damit meine ich nicht nur die religiöse Bedeutung. Das war mir in meiner aktiven Zeit als Pfarrer immer sehr wichtig, aber ich gebe zu, dass ich das heute etwas anders sehe. Natürlich finde ich es gut, wenn wir über den biblischen Hintergrund der Feste im Kirchenjahr Bescheid wissen. Ich glaube auch, dass das sehr helfen kann, noch mehr Nutzen aus dem Kirchenjahr zu ziehen. Es geht mir aber jetzt vor allem um die Bedeutung, die diese Rituale für mich persönlich haben.

Beispiel “Advent kann kommen”

Ich nenne mal ein Beispiel von mir selbst. Für mich ist es immer eine Tortur, wenn schon im Oktober die Advents- und Weihnachtssachen in den Geschäften stehen. Ich mag es, die Zeiten des Jahres und des Kirchenjahres einzuhalten. Dadurch wird die tiefere Bedeutung noch bewusster und hilfreicher. Deshalb begehe ich den Abschluss des Kirchenjahres mit dem Totensonntag ganz bewusst noch in diese Sinne: Nachdenken über die Endlichkeit des Lebens und die Erinnerung an die uns vorausgegangen Menschen. Bis Totensonntag kommt deshalb bei mir kein Adventsschmuck ins Haus und es wird auch keine Advents- oder Weihnachtsmusik aufgelegt.

In der Woche zwischen Totensonntag und dem 1. Advent fange ich dann bewusst damit an. Ich kaufe Spekulatius und Marzipankartoffeln, Schokoladen-Nikoläuse usw. Die für mich zentralen Adventszeichen werden herausgeholt, besorgt, aufgestellt: Adventskranz, Adventskalender, meinetwegen auch Engel, Kerzen und Fensterschmuck bis hin zur Lichterkette. Für mich persönlich ganz wichtig für das Einläuten der Adventszeit ist es, ganz bewusst zum ersten Mal im Jahr adventliche Musik zu hören.

Dann kann der Advent kommen.

Du merkst, es geht mir hier noch gar nicht um die spirituelle Dimension im engeren, religiösen Sinn. Das sind alles ja ganz praktische Dinge. Vielleicht fragst Du Dich, wo da das Ritual ist. Diese Gewohnheit ist ein Ritual, weil es die oben genannten Merkmale eines Rituals hat.

  1. Ich tue das jedes Jahr wieder (Wiederholung).
  2. Es sind althergebrachte Bräuche und Symbole (Tradition).
  3. Ich teile es mit meiner Familie (Kommunikation).
  4. Es verbindet mich mit der Familie und in gewissem Sinn auch der Kirche (Identität).
  5. Die Symbole vermitteln Glauben und Werte (Transzendenz).

Es geht noch weiter

Ich hoffe, ich konnte mit diesem Beispiel verdeutlichen, wie für mich Spiritualität und das alltägliche Leben zusammenkommen im Kirchenjahr. In den nächsten Beiträgen dieser Reihe möchte ich das noch weiter vertiefen und einige Hinweise geben, wie wir so eine lebendige Spiritualität leben können, ohne dabei “abzuheben”.

Es bleibt natürlich auch noch die Gefahr, dass die Bedeutung der Rituale gänzlich verloren geht und wir nichts mehr damit anfangen können. Dann fragt man sich, warum man das überhaupt noch macht. Das Ritual ist dann zur bloßen Routine geworden. Deshalb geht es im nächste Beitrag um “Wenn Rituale zu Routinen werden”.

Lechajim – für das Leben!
Liebe Grüße und bleib von Gott behütet!
Uwe

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