Wenn Rituale zu Routinen werden
Dieser Beitrag ist der zweite Teil meiner Serie über Rituale und Routinen im Kirchenjahr. Im ersten Teil ging es grundsätzlich um Rituale im Kirchenjahr. Ich bin überzeugt davon, dass das Kirchenjahr mit den Ritualen, Bräuchen und Symbolen eine große Bereicherung für unser alltägliches Leben ist.
Allerdings gibt es auch die Erfahrung, dass viele traditionelle Elemente des Kirchenjahres, des Gottesdienstes und der christlichen Bräuche den Menschen in unserer digitalen Welt fremd geworden sind. Welche Bedeutung kann der spirituelle Inhalt für uns überhaupt noch haben? Wie können wir – wenn wir es denn wollen – die von mir behauptete Bereicherung erleben?
In diesem Teil der Serie geht es um den “Verlust des lebendigen Rituals”. In zwei weiteren Teilen, die in den nächsten Wochen erscheinen, möchte ich dann Wege zeigen, auf denen wir wieder Zugang zu den alten Weisheiten im Kirchenjahr finden, die auch heute noch hilfreich sind und zu einem glücklichen Leben führen können.
Themen der Artikelserie
1. Rituale im Kirchenjahr
2. Wenn Rituale zu Routinen werden
3. Achtsamkeit und Gewohnheit
4. Das Kirchenjahr im Alltag
Lebendiges Kirchenjahr
Dieser Beitrag steht im Themenbereich Lebendiges Kirchenjahr.
Kirchenjahr
Mit den Themen Bibel im Kirchenjahr und Liturgisches Kirchenjahr bildet Lebendiges Kirchenjahr den Abschnitt Kirchenjahr.
Spiritualität
Kirchenjahr gehört mit Kirche und Bibel zum Bereich Spiritualität.
Übersicht
Infos über alle Themen meines Blogs findest Du auf der Übersichtsseite.
Wird das Ritual zur Routine?
Als ich noch aktiver Pfarrer war, habe ich oft gehört, dass der Gottesdienst doch “nur noch bloße Routine” sei. Damit sollte ausgedrückt werden, dass der immer wieder gleiche Ablauf nur sinnlos wiederholt wird, die Inhalte veraltet sind und für unser Leben heute unbedeutend sind.
Ich habe das nie so empfunden. Für mich waren die Traditionen immer lebendig und aktuell. Lange Zeit habe ich deshalb gedacht, es komme nur darauf an, die Form zu modernisieren. Mir ist aber im Laufe der Zeit klar geworden, dass das gar nicht das wichtigste ist. Dazu in späteren Beiträgen mehr.
Heute frage ich mich, was der Unterschied zwischen Ritual und Routine ist und wie ein lebendiges Ritual zu einer negativ empfundenen Routine werden kann.
Wenn die Zeremonie zur schlichten Routine wird, beginnt der Verfall der Kultur. Dr. Fritz P. Rinnhofer
Was ist der Unterschied zwischen Ritual und Routine?
In der Wikipedia gibt es keinen eigenen Artikel über Routinen, sondern sie verweist auf den Artikel zu Gewohnheit. Ich bin der Meinung, dass das nicht ganz richtig ist. Gewohnheit und Routine sind nicht das Gleiche. Routine beinhaltet zum Beispiel auch, dass jemand eine Tätigkeit so oft getan hat, dass er sie “aus dem FF” beherrscht, also sehr gut darin ist. Das ist bei einer Gewohnheit nicht gemeint. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten, vor allem, wenn es um die negative Seite geht.
Eine Routine hat oft etwas “sinnloses”. Etwas wird einfach nur gemacht, weil es immer schon so gemacht wurde, ohne darauf zu achten, was es bedeutet. Es wird sozusagen “abgespult”. Das wollen wir natürlich im Blick auf die Rituale des Kirchenjahres nicht.
Doch was ist dann eigentlich der Unterschied?
Bewusst oder unbewusst?
Rituale und Routinen (ebenso wie Gewohnheiten) leben von der Wiederholung. Ein grundsätzlicher Unterschied ist aber, dass Rituale bewusst vollzogen werden, Routinen aber unbewusst ablaufen. Ich merke kurz an, dass das etwas vereinfacht ist, aber doch grundsätzlich stimmt. Routinen sollen ja gerade automatisch ablaufen, weil sie dadurch die Handlung vereinfachen und oft auch verbessern.
Beispiel: Wenn ich morgens nach dem Aufwachen noch völlig verschlafen bin und einfach “routiniert” die immer gleichen Handlungen mache – waschen, Zähne putzen, anziehen, Kaffee kochen… -, dann hilft mir diese Morgenroutine dabei, in den Tag zu starten. Dabei muss ich dann nicht jeden Morgen neu überlegen, was ich denn nun jetzt alles zu tun habe.
Wenn dagegen das Ritual so automatisch abgespult wird, verliert es eine Menge an Sinn und Inhalt. Trotzdem hilft auch hier die Wiederholung, weil nicht alles immer wieder neu erfunden werden muss. So gehört beides zum Ritual: Es muss bewusst sein, was der Inhalt ist und warum es begangen wird, es darf aber auch unbewusst sein, weil das entlastet und vereinfacht.
Alt oder neu?
Rituale sind alt: Rituale gelten, so sagt der Philosoph Odo Marquard, „auf Grund ihrer faktischen Geltung, sie gelten, weil sie schon galten“. Sie haben eine Tradition. Routinen können immer wieder neu erfunden werden. Jeder Mensch kann für sich selbst immer neue Routinen entwickeln.
Das ist sogar sehr positiv und wünschenswert. Solche Routinen – in diesem Sinne kann man auch Gewohnheiten sagen – helfen das Leben zu strukturieren und zu vereinfachen. Siehe dazu auch meinen Artikel über Gewohnheiten.
Oben oder unten?
Rituale sind kulturell eingebunden und verweisen auf “etwas Höheres” (Transzendenz). Das ist besonders offensichtlich bei den religiösen Ritualen wie Gottesdienst, Taufe etc. Das gilt aber auch zum Beispiel für die Rituale in der Politik. Etwa, wenn ein Staatsgast empfangen wird. Diese Handlungen beinhalten immer auch eine Rückbindung an die Ideen von Demokratie, Menschenrechte, Vaterland oder ähnliches.
So versinnbildlichen Rituale auch dieses “Höhere”. Sie sind auch symbolische Akte. Das kann man von Routinen sicher nicht behaupten. Bei einer Routine geht es nicht um den Sinn, sondern um den Ablauf. Eine Reihenfolge von Handlungen soll so automatisiert werden, dass man nicht darüber nachdenken muss. Gerade dadurch wird es einfacher und oft gewinnen die Handlungen auch an Qualität.
Wir oder ich?
Routinen sind sehr individuell. Jeder Mensch hat seine eigenen Routinen und kann sie für sich selbst erlernen, verändern, erneuern. Rituale haben aber immer etwas mit der gemeinsamen Durchführung zu tun und sind deshalb auch identitätsstiftend. Es geht um die Identität einer Gruppe, Gesellschaft, Kirche…
Schaut man sich im Netz nach Ritualen um, scheint es mir heute auch eine starke Individualisierung von Ritualen zu geben. Dann geht es nicht mehr um die individuelle Morgenroutine, sondern um das individuelle Morgenritual. Da ist durchaus auch etwas dran. Es mag auch persönliche Rituale geben. Diese haben dann aber andere Merkmale, die sie von Routinen unterscheiden. Hier geht es mir um grundsätzliche Unterscheidungen, auch wenn das im Einzelnen abweichen kann.
Heute ist uns unsere Individualität besonders wichtig und das ist auch gut so. Dadurch haben es aber die traditionellen und “gemeinsamen” Rituale – gerade auch des Kirchenjahres – sehr schwer. Auch die Kirche hat inzwischen versucht, dabei mitzuhalten. Es gibt heute eine große Vielfalt an unterschiedlichen Angeboten bei Gottesdiensten und Feiern rund um das Kirchenjahr.
Ich möchte an dieser Stelle trotzdem gerne eine Lanze brechen für die gemeinsamen und traditionellen Formen. Wenn wir uns darauf einlassen, können sie ganz neu lebendig werden. Allerdings brauchen wir dafür wohl einen neuen Blick auf die Inhalte und einen neuen individuelleren Zugang zu den Symbolen und Bräuchen. Wie schon mehrfach gesagt, möchte ich dazu in nächster Zeit einige Hinweise auf diesem Blog geben.
Gemeinsam oder allein?
Dazu gehört auch dieser Punkt. Rituale sind grundsätzlich kommunikative Akte. Deshalb kann das Ritual eigentlich nicht im stillen Kämmerlein vollzogen werden. Kommunikation gehört dazu. Das scheint mir im gottesdienstlichen Ritual besonders offensichtlich zu sein. Meine Morgenroutine kann ich aber auch ganz allein für mich durchziehen ohne mit jemandem zu kommunizieren – ob nun mit Worten oder nonverbal.
Gerade für lebendige Rituale im Kirchenjahr ist mir dieser kommunikative Charakter sehr wichtig. Natürlich bezieht sich das auf den Austausch mit Worten und Symbolen mit anderen Menschen, aber es gibt ja auch eine tiefere Dimension dabei. Für Gläubige gibt es die Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Ich denke aber, es gibt dabei auch eine Art innerer Kommunikation mit meinem eigenen Ich.
Kurze Anmerkung: Ich merke gerade, wie schwer es mir fällt, das alles in dieser Kürze zu beschreiben. Ich hoffe, ich kann es einigermaßen verständlich rüberbringen. Ich verspreche Dir aber, dass ich in weiteren Artikeln konkreter beschreiben werde und Dir Hilfen an die Hand gebe, wie Du das in Deinem Leben lebendig werden lassen kannst.
Charme kann der Routine zum Opfer fallen. Elfriede Hablé
Der Charme des Kirchenjahres
Auch wenn das in dem obigen Zitat wohl nicht gemeint ist, möchte ich es hier mal so verstehen. Ich bin überzeugt, dass das Kirchenjahr einen ganz eigenen Charme hat, den wir mit Routinen, Gewohnheiten und noch so individuellen Formen nicht in unseren Alltag bringen können.
Mir geht es im Grunde darum, diesen Charme des Kirchenjahres aus der Routine herauszuholen. Wie können wir den uralten, wunderbaren Charme des Kirchenjahres heute wieder entdecken?
Ein zentraler Punkt dabei ist für mich eine andere Herangehensweise. Ich möchte den Blick nicht so sehr auf Dogmen oder Glaubenswahrheiten richten, sondern auf unsere Welt, unser Leben, unseren Alltag. Ich möchte mich nicht ablenken lassen davon, dass viele Rituale und Bäuche für uns schon zur Routine geworden sind. Ich möchte die alten Symbole und Weisheiten neu entdecken, auch wenn wir schon so sehr daran gewöhnt sind.
Wenn das gelingt, dann werden diese alten Weisheiten und Symbole für das Leben im Alltag hilfreich werden, das Leben vertiefen und eine gelebte Spiritualität ermöglichen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du Dich mit mir auf dieses Abenteuer einlässt und dem Kirchenjahr eine neue Chance gibst, seinen Charme zu versprühen!
Lechajim – für das Leben!
Liebe Grüße und bleib von Gott behütet!
Uwe