Tradition und Gottesdienstreform
Mir ist sehr wichtig, eine Verbindung von Tradition und Erneuerung zu haben. Wir leben in einer Zeit, die sich schneller verändert, als das jemals in der Geschichte geschehen ist. Das gilt auch für Bestrebungen zur Gottesdienstreform. Dabei gibt es einen Abbruch von vielen Traditionen, die sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende entwickelt und gehalten haben. Viele Dinge, die noch vor wenigen Jahrzehnten völlig selbstverständlich waren, sind heute den meisten Menschen – nicht nur jungen – nicht einmal mehr bekannt.
Mir fällt dabei spontan ein, dass es früher für Männer üblich war, beim Betreten einer Kirche den Hut (die Mütze) abzuziehen. Heute kennen viele das nicht mehr oder halten es für einen „alten Hut“. (Sorry für das Wortspiel.)
Was den Gottesdienst angeht, ist mir die Verbindung von Tradition und Gottesdienstreform – oder dem, was üblich ist, und dem, was modern ist – außerordentlich wichtig. Auch auf meinem Blog ist das ein zentraler Punkt für mich. Mein Motto auf uwe-hermann.net ist: „Alte Weisheiten für eine digitale Welt“. Das Digitale steht zum einen repräsentativ für unsere moderne Zeit. Zum anderen interessiert mich das Thema Digitalisierung schon lange.
Seit meiner Jugend arbeite ich mit Computern, war einer der ersten im Internet, habe alle neuen Entwicklungen in diesem Bereich gespannt verfolgt. Ich habe mich von Anfang an gefragt, wie das auch meine Arbeit in der Kirche und als Pfarrer beeinflusst und verändert.
Trotzdem bin ich in mancher Hinsicht ziemlich „altmodisch“. Ich beschäftige mich liebend gerne mit Geschichte, schreibe die Geschichten meiner Heimat auf und liebe alte Traditionen. Nicht umsonst habe ich in England studiert; einem Land mit vielen und immer noch lebendigen, uralten Traditionen. So sind mir die Traditionen unseres evangelischen Gottesdienstes sehr wichtig.
Wie kommt das zusammen? Ist es möglich, Traditionen zu bewahren und trotzdem mitten in unserer modernen Zeit zu leben? Ich bin überzeugt davon, dass das möglich ist.
Serie
Dieser Beitrag gehört zur Serie "Wie geht evangelischer Gottesdienst".
Lebendiges Kirchenjahr
Dieser Beitrag steht im Themenbereich Lebendiges Kirchenjahr.
Kirchenjahr
Mit den Themen Bibel im Kirchenjahr und Liturgisches Kirchenjahr bildet Lebendiges Kirchenjahr den Abschnitt Kirchenjahr.
Spiritualität
Kirchenjahr gehört mit Kirche und Bibel zum Bereich Spiritualität.
Unterschiedliche Interessen
Im Blick auf den Gottesdienst gibt es so viele unterschiedliche Interessen und Einflüsse. Nicht nur die vielfältigen kulturellen Einflüsse unserer Zeit und die unterschiedlichen Glaubensrichtungen spielen eine Rolle. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Gottesdiensten, wie sie in der evangelischen oder der katholischen Kirche oder in Freikirchen gefeiert werden. Heute erleben wir auch viel näher als früher ganz andere Formen von Gottesdienst. Denken wir nur an den Islam. Inzwischen gibt es wahrscheinlich überall in Deutschland in der Nachbarschaft eine Moschee.
Wie feiern andere Religionen Gottesdienst? Wie leben Menschen ohne spezielle Religionszugehörigkeit ihre Spiritualität – wenn überhaupt? Auch innerhalb der Kirche gibt es ganz unterschiedliche, beinahe gegensätzliche Strömungen und Interessen. Wie soll man da noch einen gangbaren Weg für einen gemeinsamen Gottesdienst finden?
Eine Möglichkeit ist, Zielgruppen-Gottesdienste zu feiern. Das hat die evangelische Kirche in den letzten Jahrzehnten sehr intensiv gemacht. Die Geschichte der Gottesdienstreform ist inzwischen schon recht lang. Mittlerweile kann man wohl sagen, dass selbst Jugendgottesdienste, musikalische Gottesdienste, Familiengottesdienste und so weiter zu den „traditionellen“ Gottesdiensten gehören. Aktuell sind vielmehr Zoom-Gottesdienste oder Techno-Gottesdienste modern. Selbst Lobpreisgottesdienste, wie sie in meiner Heimatgemeinde immer mal wieder stattfinden, sind doch schon fast ein alter Hut (siehe oben).
Beispiel „Diese Lappen am Altar“
Ein Beispiel für die unterschiedlichen Interessen möchte ich kurz erzählen. Es geht dabei nicht darum, eine Seite zu unterstützen oder zu verdammen. Beide Interessen sind durchaus berechtigt. Da gibt es in einer Gemeinde Bestrebungen, die Kirche umzugestalten. Die Neugestaltung des Raums ist dann der erste Schritt zu einer Gottesdienstreform. Es ist eine sehr alte Kirche, die schon jetzt mit moderner Technik ausgestattet ist und in der sich viele unterschiedliche Menschen wohl fühlen.
Trotzdem wünschen sich einige, dass die alten Bänke aus der Kirche raus sollen. Es soll eine moderne Bestuhlung aufgestellt werden, die noch mehr zum Wohlfühlen sind. Die Stühle könnten aber auch beiseite gestellt werden und man würde damit Platz gewinnen für ganz neue Möglichkeiten – auch um Gottesdienst ganz anders zu gestalten. Dann könnte man tanzen und feiern und Gesprächs- oder Gebetsgruppen machen oder ganz andere Veranstaltungen in der Kirche anbieten. Ich verstehe das Anliegen. Geht es doch darum, möglichst viele Menschen mit einem möglichst vielfältigen Angebot anzusprechen.
Dann gibt es aber auch die andere Seite. Menschen, denen die Kirche in ihrer Tradition am Herzen liegt, sagen: „Dann ist das nicht mehr meine Kirche!“ Diese Menschen hängen an der Kirche, so wie sie seit Jahrhunderten gestaltet ist. Sie fühlen sich hier zuhause; und das seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Sie haben das Gefühl, dass mit den Bänken auch ein Teil ihres Herzens herausgerissen wird.
Menschen, denen die Gottesdienstreform am Herzen liegt, sagen zum Beispiel Sätze wie: „Diese Lappen am Altar können auch endlich mal weg“. Eine solche Aussage offenbart zwar einerseits eine gewisse Ahnungslosigkeit, was Antependien sind und was sie bedeuten, andererseits ist sie aber doch auch nur ein Ausdruck der Gestaltungsfreude. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die mit Herzblut an den „Lappen“ hängen. Gerade in dieser Gemeinde wurde vor wenigen Jahren ein neues rosafarbenes Parament angeschafft. Viele kennen noch die Farben des Kirchenjahres – weiß, rot, grün, violett. Aber rosa?
Es gibt zwei Sonntag in Bußzeiten – Lätare in der Passionszeit und der 3. Sonntag im Advent (Gaudete) in der Adventszeit – die mitten in der Buße, in der Fastenzeit, in der Zeit, in der es um schwere Themen geht, etwas Leichtigkeit und Freude bringen. Freude mitten im Leid – das ist doch ein tolles Thema, über das es sich lohnt, nachzudenken. Deshalb wird die Farbe der Buße etwas abgemildert. Aus violett wird rosa. Es gibt Menschen, zu denen auch ich gehöre, die das superspannend und interessant finden.
Gibt es nicht vielleicht die Möglichkeit, dass beide Seiten etwas mehr Verständnis füreinander finden? Könnte es Kompromisse geben? Ich bin überzeugt davon, dass das möglich ist.
Halt in einer komplexen Welt
Der Evangelische Gottesdienst ist mehr als nur eine kirchliche Veranstaltung unter vielen. In der Kirche wird oft gesagt, dass der Gottesdienst die Mitte der Gemeinde ist. Hier sollen sich alle zusammenfinden – alt und jung, Frauen und Männer, arm und reich. Zumindest ist das das Ideal. Was ist denn so wichtig am Gottesdienst, dass er diese Bedeutung hat?
Für viele Menschen, die regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, ist er ein Ort der Begegnung, des Gebets, der Inspiration und der Gemeinschaft. Er ist ein Spiegelbild des Glaubens, eine Quelle der Hoffnung und ein Ort der spirituellen Nahrung. Gerade in unserer Zeit des schnellen Wandels und der Häufung von Katastrophen weltweit brauchen wir einen Halt. Für Gläubige ist das der Gottesdienst. Ein Halt mitten in einer chaotischen und komplexen, sich ständig verändernden Welt.
In Studien wurde festgestellt, dass Menschen, die regelmäßig Gottesdienste besuchen, länger leben. Auch wenn ich grundsätzlich solche vereinfachenden und direkten Zusammenhänge anzweifle, ist doch eines klar: Durch den Glauben und die Gemeinschaft der Gläubigen kann Stress besser verarbeitet werden. Wichtig ist dabei natürlich, dass der Gottesdienst die Möglichkeit gibt, diesen Halt zu spüren.
Wenn ich am Sonntagmorgen in der Kirche sitze und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll und verstehe nicht, was da passiert, dann kann ich die hilfreichen Aspekte nicht wirklich wahrnehmen. Auch aus diesem Grund muss eine Gottesdienstreform gut überlegt sein. Um all das in der Tiefe zu erfassen, ist es deshalb gut, die Grundlagen und Elemente zu verstehen, die einen Gottesdienst ausmachen.
Genau hinschauen
Ich lade Dich also ein, einmal genau hinzuschauen. Betrachten wir den evangelischen Gottesdienst aus verschiedenen Perspektiven. Vielleicht können wir dann besser verstehen, wie wir Traditionen erhalten können, die gut tun. Wir müssen dann auch nicht in blinden Aktionismus verfallen und alles über Bord werfen, was uns „veraltet“ erscheint. Natürlich müssen wir heute, mitten in unserer Zeit leben und nicht in der Vergangenheit. Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir besser, was wir verändern und weiterentwickeln können. Ich glaube, dass eine Gottesdienstreform nur möglich ist, wenn wir das Hergebrachte verstehen.
Neues entsteht normalerweise nicht aus dem Nichts. Auch in der Wissenschaft werden Grenzen des Wissens und des Verstehens überschritten, indem auf den Forschungen aufgebaut wird, die es bereits gibt. Genauso können wir in der Kirche auf dem aufbauen, was unsere Vorfahren entdeckt und erarbeitet haben. Also schauen wir uns das einmal genauer an.
Für dieses Buch habe ich vor, aus drei Perspektiven auf den evangelischen Gottesdienst zu blicken: mit einer Lupe, durch ein Mikroskop, und mit einem Fernglas.
Die Lupe
Mit der Lupe schauen wir uns den Gottesdienst als ganzes an und untersuchen die verschiedenen Zusammenhänge:
- Welche Menschen nehmen am Gottesdienst teil und sind in der Liturgie aktiv? Schauen wir auf die Gemeinde, auf Pfarrer:innen, Kirchenmusiker:innen und Küster:innen.
- Welche Rolle spielt die Bibel im evangelischen Gottesdienst? Es gibt verschiedene Lesungen aus der Bibel, den Predigttext und viele Sprüche – warum, wofür?
- Wie kommt die Zeit ins Spiel? Dabei geht es nicht nur um den Tag und die Uhrzeit des Gottesdienstes, sondern um den Zusammenhang mit dem Kirchenjahr.
- Die Gestaltung des Gottesdienstraums, der Kirche ist kein Zufall. Warum sind Kirchen besonders gestaltet? Gibt es einen „heiligen Raum“ mitten in unserer Welt?
- Gehört die Welt um uns herum nicht auch im Gottesdienst in den Blick? Neben dem Gottesdienst, der Liturgie, gehört die Diakonie zu den zentralen Aufgaben der Kirche. Wie hängt das zusammen?
Das Mikroskop
An dieser Stelle möchte ich mit Dir zusammen in diesem Buch die einzelnen Elemente des Gottesdienstes noch genauer betrachten. Schritt für Schritt gehen wir durch jedes kleine Detail der in meiner Landeskirche – der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) – üblichen Liturgie. In anderen evangelischen Kirchen ist die Liturgie etwas abweichend, aber der Grundbestand ist doch überall sehr ähnlich. Wenn Du ein Evangelisches Gesangbuch (EG) hast, dann findest Du darin den Gottesdienstablauf Deiner Kirche. Meistens gibt es dazu am Anfang des Gesangbuches einen Abschnitt.
Das Fernglas
Wenn wir so genau hingeschaut haben, was es schon gibt und was das bedeutet, dann wollen wir am Ende des Buches auch noch danach schauen, wie wir damit weiterarbeiten können. Welche Perspektiven gibt es für den evangelischen Gottesdienst? Wie können wir ihn weiterentwickeln, damit er seine Aufgabe auch heute erfüllen kann und Halt gibt? Wie wird die Digitalisierung unsere Gottesdienste verändern? Gerade in dieser Hinsicht haben wir in der Kirche während der Corona-Zeit sehr viel ausprobiert und gelernt. Schauen wir also mit dem Fernglas etwas über den Horizont hinaus und überlegen, wie Gottesdienstreform aussehen kann und was unverzichtbar bleibt.
Lechajim – für das Leben!
Liebe Grüße und bleib von Gott behütet!
Uwe
Ich bin sehr gespannt auf dein Buch und freue mich, wenn ich es in den Händen halten und lesen kann.
Liebe Grüße, Almuth