Nächstenliebe
Für andere da sein hat in unserer westlichen Kultur eine lange Tradition. Denk nur mal an Mutter Teresa oder Albert Schweitzer oder den Friedensnobelpreis oder… (Dir fällt bestimmt noch mehr ein).
Die Ursprünge dieser Wertschätzung liegen in dem christlichen Begriff der Nächstenliebe. Vielleicht kennst Du das Gleichnis, das Jesus einmal erzählt hat:
„Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich bei euch aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir etwas anzuziehen gegeben; ich war krank und ihr habt mich versorgt; ich war im Gefängnis und ihr habt mich besucht.“ (Matthäus 25, 35f).
Jesus hat diese Vorstellung, für andere da zu sein, aus dem “Alten Testament”, der Bibel der Juden. Auch in vielen anderen Religionen gibt es Regeln, die die Fürsorge für andere Menschen in den Vordergrund stellen.
Selbstverleugnung und Aufopferung
Jesus stellt dieses „für andere da sein“ als Vorbild für alle Christen dar und sagt dazu: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.“ (Matthäus 25, 40)
Viele Werte, die wir heute meistens für gut und richtig halten und nach denen sich immer noch viele Menschen – ob gläubig oder nicht – richten, hängen damit zusammen:
- Demut
- Selbstaufopferung, sich aufopfern für andere
- Fleiß und Arbeitsmoral
- Uneigennützig sein
- Altruismus
- Hilfsbereitschaft
- …
Ja, einerseits sind das Werte, die gut sind. Es ist auch wichtig für eine Gesellschaft und das Zusammenleben von uns Menschen, dass wir füreinander da sind. Ganz besonders spüren wir das in der Familie, aber auch unter Freunden und Kollegen.
Auch ist es einfach ein schönes Gefühl, anderen helfen zu können. Es tut gut und bringt Freude, sich gegenseitig helfen zu können. In einem Ehrenamt engagiert zu sein, kann viele Vorteile für einen selbst bringen.
Wenn wir uns die Liste oben anschauen, dann kann es aber auch sein, dass uns ein wenig mulmig zumute wird. Wir fragen uns dann: Kann ich wirklich immer für andere da sein? Kann man nicht auch sich selbst verlieren, wenn man sich aufopfert, uneigennützig ist, anderen hilft?
Das Problem mit der Hilfsbereitschaft
Erst in neuerer Zeit verbreitet sich die Erkenntnis, dass ein grenzenloses Engagement für andere auch seine Schattenseiten hat. Es scheint zwar in der Natur des Menschen zu liegen “sozial” zu sein. Allerdings sah schon Freud in der Nächstenliebe die Gefahr der Überforderung.
Auch Friedrich Nietzsche kritisierte die Nächstenliebe: „Der eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der andre, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
So ganz unrecht hat der Philosoph ja nicht. Im ehrenamtlichen Engagement, in der Fürsorge für andere Menschen, im „Sich-Aufopfern“ kann ja auch viel Selbstsucht liegen. Die Anerkennung, die man dadurch bekommt, tut ja der eigenen Seele gut. Vielleicht ist es bei manchen sogar eine Möglichkeit, fehlendes Selbstbewusstsein zu kompensieren. Paradox, aber nicht ungewöhnlich. Ein Mensch ist für andere da, um sich selbst Anerkennung zu verschaffen. Natürlich ist es, wie Nietzsche sagt, auch nicht gut, sich selbst zu verlieren.
Schließlich gibt es immer auch ein „Zuviel“. In der Psychologie gibt es die Rede vom “pathologischen Altruismus”. Es gibt also Menschen, die immer und bedingungslos nett und freundlich und hilfsbereit sind (Denk mal an den Ausdruck “Helfersyndrom”). Dann führt diese Hilfsbereitschaft möglicherweise zum Burnout oder anderen psychischen Problemen. In einem solchen Fall ist professionelle Hilfe dringend zu empfehlen!
Sprichwort:
An des anderen Vorteil denken wird zum eigenen werden. Aus China
Balance schaffen
Wichtig ist deshalb, eine Balance im eigenen Leben zu schaffen. Es ist gut und gesund und wichtig für den sozialen Zusammenhalt in Familie, Freundeskreis und Gesellschaft, dass Menschen auf andere achten und für sie da sind. Um die Kraft dafür zu haben, müssen sie sich aber auch um sich selbst kümmern.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es zu einem glücklicheren und erfüllteren Leben führt, wenn wir für andere Menschen da sind. Genauso bin ich mir aber auch klar darüber, dass ich auch die Kraft dafür brauche.
Deshalb muss ich auch für mich selbst sorgen und darauf achten, mich nicht zu überfordern. Ich kann Dir aus eigener leidvoller Erfahrung sagen, wie wichtig das ist. Mein eigener Weg in ein Burnout vor einigen Jahren, hatte sehr viel damit zu tun, dass ich diese Balance in meinem Leben verloren hatte.
Deshalb meine große Bitte an Dich: Achte darauf! Achte auch auf Dich selbst! Wenn Du zusammenbrichst, dann haben Dein Partner, Deine Familie, Deine Freunde und Kollegen auch nichts davon!
Es bleibt aber die Frage:
Wie können wir das schaffen?
Meiner Erfahrung nach ist es eine große Hilfe, sich über die eigenen Voraussetzungen klar zu werden. Ganz zentral dabei ist für mich das Stichwort “Glaubenssätze”.
Einige Gründe, die uns Schwierigkeiten machen, liegen in unserer eigenen Person, in unserer Psyche verborgen. Ein ganz wichtiger Punkt dabei sind sogenannte „Glaubenssätze“. Es geht dabei nicht um christliche, religiöse Dogmen, also Glaubenswahrheiten, sondern um einen Fachbegriff aus der Psychologie.
Glaubenssätze in diesem Sinne sind Regeln, die ein Mensch im Laufe seines Lebens gelernt hat. In der Psychologie sind Glaubenssätze Lebensregeln, die ein Mensch sich durch Erziehung oder Erfahrung angeeignet hat. Oft sind diese „Regeln“ problematisch. Manchmal können sie aber auch hilfreich sein.
Auf jeden Fall lohnt es sich, die eigenen Glaubensregeln mal genauer anzuschauen. Ich habe das etwas ausführlicher in diesem Artikel getan: Glaubenssätze: Können Frauen logisch denken und dürfen echte Männer weinen?. Hier geht es mir nur um solche Glaubenssätze, die im Zusammenhang mit dem Thema „Für andere da sein“ stehen.
Allgemeine „Glaubenssätze“
Der Satz „Du musst immer für andere da sein!“ ist ja selbst ein solcher Glaubenssatz, den viele schon sozusagen mit der Muttermilch in sich aufgenommen haben. Es gibt aber noch eine Menge anderer, die damit in Zusammenhang stehen. Nicht immer ist das ganz offensichtlich.
Zum Beispiel bei dem Satz, den du bestimmt kennst: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Das betrifft natürlich ganz allgemein die Einstellung zur Arbeit. Es hat aber auch Auswirkungen auf das Engagement, nicht nur im Beruf, sondern auch in der Familie und bei den Aktivitäten im ehrenamtlichen Bereich.
Stark auf die Familie bezogen ist der „schwäbische“ Spruch „Schaffe, schaffe, Häusle baue.“ Allerdings reduziert er das Dasein für die Familie auf die Bereitstellung einer guten Umgebung. So wichtig das auch sein mag, dass die Familie ein schönes Haus, eine schöne Wohnung hat, wo sie auch Geborgenheit finden kann; die Beziehung zu den Familienmitgliedern gerät dabei aber etwas aus dem Blick.
Religiöse „Glaubenssätze“
Bei gläubigen Menschen spielen oft – bewusst oder unbewusst – problematische Auslegungen biblischer Texte eine große Rolle. So mancher Satz der Bibel, aus dem Zusammenhang isoliert, wurde vielfach in einer extremen Art und Weise interpretiert.
Auch hierzu zwei Beispiele:
Fleiß: Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr! Sprüche 6, 6
Kennst du das: die fleißige Ameise? Ja, das kommt tatsächlich aus der Bibel. Für sich betrachtet und in einer ganz speziellen Art des Verständnisses folgt daraus der Schluss: Faulheit ist Sünde. Wer Gott gefallen will, muss fleißig sein. Was für ein schrecklicher Gedanke!
Hilfsbereitschaft: Jesus sagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. Lukas 10, 27
Daher kommt das Stichwort Nächstenliebe. Es hat sich tief im gesellschaftlichen Bewusstsein der Christen festgesetzt, dass man für den Nächsten – wer immer das auch sein mag – da sein muss.
Genauso wie Fleiß ist auch Hilfsbereitschaft an und für sich ja nichts Schlechtes. Es kommt halt immer darauf an, wie extrem man das umsetzt.
Wenn du auch solche Glaubenssätze mit dir herumträgst, dann macht es Sinn, sich das einmal klar zu machen.
Sprichwort:
Du hast es gegessen, es ist verschwunden. Du hast es jemand anders zu essen gegeben, es duftet. Aus Arabien
Nächstenliebe: schön und schwer zugleich
Sollen wir denn jetzt alle diese Glaubenssätze über Bord werfen? Sollen wir die uralte Tradition der Nächstenliebe einfach ignorieren? Was haben wir eigentlich für ein Problem mit diesem Thema? Gibt es denn keinen gesunden Mittelweg?
Das ist für mich genau der Kern des Problems. Besser gesagt: Es ist der Kern der Lösung des Problems. Es muss einen gesunden Mittelweg geben.
Ich habe ja bei den psychologischen Zusammenhängen schon darauf aufmerksam gemacht, dass auch die moderne Psychologie empfiehlt, eine Balance zu finden zwischen einem guten Altruismus und einem gesunden Egoismus.
Schauen wir mal auf den Altruismus, die Nächstenliebe… Hier gibt es zwei Seiten zu beachten:
1. Für andere da zu sein ist schön.
Aus eigener Erfahrung kann ich nämlich sagen: Es ist toll für andere da zu sein! Es gibt ein gutes Gefühl, unter anderem, weil Du damit in Übereinstimmung mit Deinen Glaubenssätzen lebst. Es ist schön, wenn ich erlebe, dass meine Arbeit gut für andere ist, dass ich jemandem helfen kann.
Es geht dabei ja nicht nur um Nächstenliebe in dem Sinn, dass ich für einen Fremden da bin. Wir sind ja auch für unsere Partner, Kinder, Eltern, Großeltern, Freunde, Kollegen da. Meine Nächsten sind doch auch – ja, vor allem – Menschen, die mir etwas bedeuten.
2. Nächstenliebe kostet auch Kraft.
Du hattest einen harten Arbeitstag. Dein Partner fordert sein Recht. Die Kinder wollen spielen. Im Haus muss noch einiges erledigt werden. Ach ja, für das Abendessen fehlt noch was, also schnell noch einkaufen. Ein Freund ruft an und bittet um Hilfe. Oh nein, heute Abend ist ja auch noch die Sitzung des Vereinsvorstands.
Okay, das war jetzt etwas übertrieben. Das ist sicher nicht normal. Obwohl, für einen Menschen, der in die Falle des pathologischen Altruismus gegangen ist, mag das öfter vorkommen, als man denkt.
Ja, Nächstenliebe kostet auch Kraft. Allein das auszusprechen, bzw. hinzuschreiben, ist für mich schon schwierig. Ich merke, wie sich auch bei mir die alten Glaubenssätze regen. So etwas kann man doch nicht sagen. Das gehört sich doch nicht und doch ist es so.
3. Deshalb: Sorg auch für Dich selbst
Achte auf die Balance in Deinem Leben. Sorg dafür, dass Du selbst Kraftquellen findest, die Dir helfen, in der Spur zu bleiben und beachte Deine Grenzen!
Sprichwort:
Die Kerze gibt anderen Licht und verzehrt sich selbst. Aus England
Die Grenzen beachten
Für die Menschen sich zu engagieren, die mir etwas bedeuten, ist einfach nur toll! Auch ehrenamtliches Engagement kann sehr befriedigend sein. Allerdings liegt gerade darin auch eine Gefahr! Wenn Du dich gut fühlst dabei, Dich für andere einzusetzen, dann merkst Du gar nicht, wenn es Dir zu viel wird. Ja, es gibt ein Zuviel! Es gibt eine Selbstvergessenheit, die Du wahrscheinlich zuerst gar nicht wirklich merkst. Der Grund dafür ist, dass Dein Engagement eben auch diese positive, tolle Seite hat.
Ich glaube, dass es schon sehr viel wert ist, sich diesen Zusammenhang einmal klar zu machen. Deshalb ist das heute meine wichtigste Botschaft an Dich: Beachte Deine Grenzen!
Natürlich gibt es auch noch viel mehr dazu zu sagen. Wie du damit umgehen kannst, versuche ich in einem weiteren Artikel zu beschreiben, den ich bald veröffentlichen werde.
Wenn Du das nicht verpassen willst, dann abonniere doch meinen Newsletter. Ich freue mich auch sehr über Kommentare und Rückmeldungen. Wenn Du diesen Artikel auf Facebook oder anderen sozialen Medien teilst, freue ich mich sehr!
Lechajim – für das Leben!
Liebe Grüße und bleib von Gott behütet!
Uwe
Und was mir auch wichtig erscheint, man muss es wirklich aus Überzeugung machen und darf es hinterher nicht demjenigen vorwerfen, für den man/häufiger frau sich angeblich oder tatsächlich aufgeopfert hat.
Da gebe ich Dir absolut recht!
Vielen Dank für die Hinweise.
Liebe Grüße
Uwe