„Heutzutage gilt doch nur noch das Recht des Stärkeren!“ „Der Stärkere hat immer Recht!“ Wer hat das nicht schon einmal gesagt oder doch zumindest gedacht?
Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie sich richtig gut gefühlt haben? Als Sie geglaubt haben, Sie könnten Bäume ausreisen.
Erinnern Sie sich an eine andere Situation, in der sie schwach waren? Vielleicht weil sie krank, traurig oder enttäuscht waren, weil der Stress Sie fertig gemacht hat.
Mal ganz ehrlich: was hat Ihnen besser gefallen?
Wer will schon schwach sein? Zähle ich mich zu den Schwachen? Die Schwäche zugeben? Öffentlich sagen, dass ich Depressionen habe, dass ich nicht mehr kann, dass mir alles zu viel geworden ist?

In der evangelischen Kirche haben wir die Tradition der Losungen, ein Bibelwort für jeden neuen Tag. So eine Losung gibt es auch für ein Jahr. Die Jahreslosung 2012 heißt:
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. 2. Korinther 12,9
Lange nicht mehr hat mich persönlich eine Losung so direkt angesprochen

„Ich habe Burnout“ sagt sich heute sicherlich leichter als noch vor einigen Jahren. Wenn aber jemand sagt „ich habe eine Depression“, dann haben immer noch sehr viele Menschen kein Verständnis dafür. Noch schlimmer ist es, zuzugeben, dass man nicht mehr alles schafft, dass man nicht mehr genug Kraft für die alltäglichen Dinge hat…
Warum ist das eigentlich so schwierig? Liegt das vor allem daran, dass unsere Welt einfach so ist? Dass sich der Stärkere immer durchsetzt? Wer zwingt uns eigentlich, dabei mitzumachen? Was ist eigentlich so schlimm daran, seine Schwäche zuzugeben?
Ich habe erlebt, dass Menschen vor der Praxis eines Psychoanalytikers standen und es ihnen sichtlich peinlich war, dass sie mir dort begegneten.
Seit ich mich entschlossen habe, offen mit meiner Erkrankung umzugehen, habe ich von etlichen Menschen erfahren, die ähnliche Probleme haben, aber bisher nie außerhalb der Familie darüber sprachen.

Es ist schon nicht einfach! Noch vor nicht allzu langer Zeit habe ich an einem mit Terminen und Arbeit vollgepackten Tag nebenbei auch noch die inhaltlichen Vorbereitungen für zum Beispiel den Konfirmandenunterricht, die Predigt am Sonntag und das Friedensgebet gemacht. Und ich habe mich gut dabei gefühlt! Ich war stark und hatte den Eindruck, ich kann alles schaffen. Heute brauche ich für diese paar Zeilen, die ich hier schreibe, viele Tage. Immer wieder muss ich Pause machen. Immer wieder gerate ich in Zweifel darüber, ob ich das richtige tue, die richtigen Worte finde. Und selbst dann, wenn der Text fertig ist, brauche ich wer weiß wie lange dafür, die Kraft und den Mut zu finden, dies zu veröffentlichen.

Der Apostel Paulus schreibt im Zusammenhang mit dem Vers der Jahreslosung von einem Pfahl im Fleisch. Wir wissen nicht genau, was er damit gemeint hat. Manche meinen, es sei ein schmerzhaftes körperliches Leiden. Wieder andere glauben, dass auch Paulus an wiederkehrenden Phasen einer seelischen Erkrankung gelitten hat. Vielleicht erging es ihm ja genauso wie mir und vielen von Ihnen und euch.
Aber wie kann Paulus dann von der Kraft sprechen? Ist das etwas, das auch wir erleben können? Liebe Leser, ich habe selbst im Moment keine fertige Antwort darauf. Aber ich habe in den letzten Wochen und Monaten einige Hinweise erlebt.
Ich habe erlebt, wie liebevoll und freundlich Menschen mir begegnen, wenn sie von meiner Erkrankung/Schwäche erfahren haben. Ich bin Menschen begegnet, denen es genauso erging wie mir und mit denen mich plötzlich eine ganz besondere Beziehung verband. Und ich habe immer wieder einmal – ganz tief in meinem Inneren – gespürt, dass Gott mir nah ist. Ich kann das nicht erklären, aber ich nehme es dankbar an.

Ich habe jetzt viel über Schwäche geschrieben, die mit einer psychischen Erkrankung zusammenhängt. Sicher erleben noch viel mehr Menschen ihre Schwäche in ganz anderen Bereichen. Körperliche Erkrankung, Behinderung, Überforderung am Arbeitsplatz, Schwierigkeiten im Umgang mit Problemen in der Familie, schlechte Leistungen in der Schule usw. und sofort.
Was auch immer unsere Schwäche ist, ich kann aufgrund meiner eigenen Erfahrung uns allen nur raten, offen und ehrlich damit umzugehen. Stehen wir einander bei. Helfen wir uns gegenseitig. Bitten wir Gott um seine Kraft! Ich bin überzeugt, er wird uns nicht enttäuschen.

Im Kreuz seines Sohnes Jesus hat Gott selbst die Schwäche erfahren. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Satz schreiben soll. Das klingt doch so sehr nach der Sprache Kanaans, nach kirchlichem Dogma, nach einstudiertem Satz. Aber ich meine das wirklich ernst! Auch wenn ich im Moment noch keine verständlicheren, aktuelleren Worte dafür finde. Gott ist an unserer Seite, auch in der Schwäche. Und das zeigt uns Jesus, der eben dieser Schwäche auch nicht ausgewichen ist, sondern bis zum Tod am Kreuz ausgehalten hat.

Was mir persönlich unglaublich viel Hoffnung gibt, ist genauso wenig verständlich. Es ist ein Geheimnis des Glaubens: Gottes Kraft erwies sich indem er Jesus von den Toten auferweckt hat.
Ich möchte hier für mich und uns noch gar nicht vom Tod als Ende des Lebens sprechen, sondern von den Situationen in unserem Leben, die uns vorkommen wie ein Tod mitten im Leben. Gerade Depressionen und seelische Erkrankungen können Menschen sicherlich so erleben, als seien sie tot mitten im Leben.
Kann es uns trösten, Mut machen, Hoffnung geben, dass das eben nicht das Ende ist! Es ist die Chance für einen neuen Anfang in der Kraft Gottes.

Welche Erfahrungen haben Sie mit der Jahreslosung 2012 gemacht?

Lechajim – für das Leben!
Mit herzlichen Grüßen und bleiben Sie behütet!
Uwe Hermann, Pfr.